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Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung

Gedenkbuch Seiten  242 - 248

  GUGGENHEIMER, Lina und Karl,

Radstraße 23

 

DR . ANTJE   KÖHLERSCHMIDT

[Josef Guggenheimer, geb. 10.2.1857 in Altenstadt, gest. 19.11.1920 in München], OO Helene, genannt Lina, geb. Guggenheimer, geb. 24.2.1860 in Altenstadt, gest. 11.1.1941 in Laupheim.
Karl Guggenheimer, geb. 7.5.1882 in Laupheim, Deportation am 28.11.1941 nach Riga,
– [Leopold Guggenheimer, geb. am 13.6.1883 in Laupheim, Deportation aus München am 20.11.1941 nach Kaunas, dort ermordet am 25.11.1941.]

 

 

 

 

Wieder einmal ist es dem Album mit Fotos aus dem jüdischen Altersheim, die 1940 von einem unbekannten Fotografen aufgenommen wurden und über Gretel Gideon in die Hände von Ernst Schäll gelangten, zu verdanken, dass die beiden letzten in Laupheim wohnhaften Guggenheimer abgebildet sind. Die 80jährige Mutter Lina Guggenheimer ist auf beiden Bildern rasch auszumachen, trägt sie doch eine Brille mit markant runden Gläsern und hat schlohweißes Haar. Im Vergleich zu den anderen Personen war sie vermutlich recht klein, ihre Sitzgröße lässt dies vermuten. Sie schaute trotz der bedrückenden Gesamtsituation, der Enge des Rabbinats, der miserablen Lebensmittelversorgung und ihnen gegenüber ausgeübten Repressalien, recht freundlich. Auffällig ist, dass alle Personen auf diesen Abbildungen sehr gepflegt erscheinen und ihre gute Kleidung tragen. Offensichtlich waren die Bewohner des jüdischen Altersheimes sehr bemüht, in dieser sehr schwierigen Zeit Haltung zu bewahren und Gelegenheiten zu schaffen, die positive Stimmung erzeugten und ihnen die Möglichkeit gab, sich abzulenken und im Zusammensein Halt und Trost zu finden.

Lina Guggenheimer hatte bis zu ihrem Umzug in das jüdische Altersheim am 28. September 1939 in der Radstraße 23 gelebt. Nur wenige Monate nach Entstehen der Fotos, nämlich am 11. Januar 1941, starb sie und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim in der Grabstätte ihres Mannes Josef Guggenheimer, der bereits 1920 verstorben war, begraben. Der auf dem Grabstein vermerkte Vorname lautet Lina. Es handelt sich vermutlich um einen von Helene abgeleiteten Rufnamen, der so fest mit ihrer Person verbunden war, dass er den im Standesamt eingetragenen Vornamen ablöste. Ihr Tod bewahrte sie nicht nur vor der eigenen Deportation, sondern auch davor, erfahren zu müssen, was mit ihrem ältestem Sohn passierte.

Der 58jährige Karl, der zum einen rechts neben der Mutter am Kaffeetisch bzw. im Hintergrund des zweiten Bildes mit dem etwas schräg gehaltenen Kopf zu sehen ist, wirkt eher skeptisch, sehr zurückhaltend und bedrückt. Karl Guggenheimer war nicht ganz gesund, was im Terminus des heutigen Sprachgebrauches heißt, dass er geistig behindert war. Ab dem 6. Juni 1940 wurde er in der Heil- und Pflegeanstalt Heggbach untergebracht.

 

Die jüdische Abteilung in der Heil- und Pflegeanstalt Heggbach

Nach Schätzungen lebten 1939 100 jüdische Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten Württembergs. Im Deutschen Reich waren es wohl zwischen 2000 und 2500. Ihr Schicksal zeigte wie bei allen anderen deutschen Juden die Entwicklung von der Aussonderung, Entrechtung und Diskriminierung bis hin zum Holocaust auf. Im Rundschreiben des Württembergischen Innenministers Nr. IX vom 5. Oktober 1939 verfügte dieser die Asylierung der jüdischen Geisteskranken Württembergs in den Anstalten Zwiefalten und Heggbach. Dem entsprach Heggbach, in dem es sich in einem Schreiben vom 21. Oktober 1939 bereit erklärte, „eine kleine Sonderabteilung für jüdische Pfleglinge“ einzurichten. Im Zeitraum von 1938 bis 1942 lebten 38 Juden in der gesonderten, von den anderen Patienten getrennten Abteilung. Karl Guggenheimer war der einzige aus Laupheim stammende jüdische Pflegling, der von Juni 1940 bis November 1940 dort lebte. 13 von ihnen verstarben in Heggbach und gehörten zu den letzten auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim begrabenen Personen. Die anderen fielen der Euthanasie und den Deportationen zum Opfer.

 

Die Deportation 

Der jüdische Pflegling Karl Guggenheimer wurde mit Martha Aronsohn, die aus Stuttgart der Heil- und Pflegeanstalt Heggbach zugewiesen worden war, der ersten von Laupheim abgehenden Deportation zugeordnet. Am 28. November 1941 wurden sie zum Westbahnhof gebracht und von dort mit den 19 aus Laupheim zugeführten Juden nach Stuttgart ins Lager auf dem Killesberg gebracht, wo die württembergischen Juden für ihre Deportation in den Osten, d. h. ins so genannte Generalgouvernement, konzentriert wurden. Die Nationalsozialisten nutzten diese Gelegenheit schamlos für die Eruierung des Vermögens der Juden aus, um sie schließlich zu plündern. Das geschah auf wirklich unverschämte Art und Weise, d. h. die Juden mussten auf dem Killesberg eine Zustellungsurkunde in Empfang nehmen und bezahlen, die den Einzug ihres Vermögens zugunsten des Deutschen Reiches erklärte. Karl Guggenheimer empfing diese im Sammellager Killesberg am 29. November 1941 und hatte 1,15 RM dafür zu zahlen. In der Heil- und Pflegeanstalt Heggbach hatte er bereits eine achtseitige Vermögenserklärung an das Finanzamt Biberach abgeben und am 22. November 1941 unterschreiben müssen. Neben den mitgeführten Sachen wurden vor allem Vermögenswerte in Form von Spareinlagen u. a. erfasst. Dieser Akribie der Nazis ist es zu „verdanken“, dass an dieser Stelle einmal exemplarisch aufgeführt wird, was Karl Guggenheimer an Vermögen besaß. Sein Gepäck bestand aus einem Reisekoffer und einem Rucksack. Zwei Kaffeelöffel, ein Esslöffel, eine Aluminiumschüssel und ein Aluminiumtrinkbecher waren sein Geschirr. An Wäsche hatte er einen Oberbettbezug, zwei Leintücher, drei Kissenbezüge, zwei Wolldecken und 12 Taschentücher dabei. Fünf Straßenanzüge, zwei Wintermäntel, Flickflecken und einen Herrenhut. Auch eine Mütze, einen Spazierstock, vier Nachthemden, einen Schlafrock, 15 Oberhemden, Kragenknöpfe, vier Krawatten, drei Paar Schuhe, zwei Paar Hausschuhe, acht Kragen, acht Paar Strümpfe, ein Paar Handschuhe, einen Schal, drei Paar Hosenträger, zwölf lange Beinkleider und fünf Unterleible führte er als Kleidung mit. Unter der Rubrik Sonderposten wurden sieben Kleiderhaken, drei Gebetbücher, ein Kamm, ein Waschlappen und eine Haarbürste aufgeführt. Bei der Kreissparkasse Laupheim gab es eine „Mündeleinlage“ in Höhe von 481,79 RM, die sein Vormund Ludwig Stern verwaltete. Darüber hinaus besaß er Hypothekenpfandbriefe in Höhe von 3500 RM.

Dieses Vermögen wurde nach der oben erwähnten Verfügung zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Die hier dargelegten Einzelheiten verdeutlichen anschaulich, wie verflochten die einzelnen Verwaltungsstellen im Dienste der Nationalsozialisten agierten und instrumentalisiert worden waren.

 

Die beiden Bilder vom Killesberg zeigen, ohne dass viele Worte dafür notwendig sind, die entwürdigende Situation für die Betroffenen und lassen erahnen, welche physischen und psychischen Strapazen die Internierten erlitten haben müssen. Am 1. Dezember 1941 verließ der Deportationszug mit 1013 württembergischen Juden Stuttgart in Richtung Riga. Nach drei Tagen und Nächten Fahrt, die ohne ausreichende Verpflegung und Stopps stattfand, erreichte er am 4. Dezember 1941 den Bahnhof Skirotowa, wo SS-Leute die Württemberger Juden „empfin- gen“. Bereits vor Ort wurden sie eines Teils ihres Gepäcks beraubt. Die Mehrzahl wurde ins zwei bis drei Kilometer entfernte Lager Jungfernhof, die anderen ins Ghetto Riga gebracht. Ob Karl Guggenheimer tatsächlich unter den Deportierten war, gilt nicht als sicher, da es keine Namensliste der 1013 Deportierten gibt und im Archiv der Erinnerungsstätte Yad Vashem in Israel A Page of Testimony, was soviel wie eine Seite einer Zeugenaussage heißt, einen Vermerk enthält, der dies bestätigt. Er lautet: „shot to death 1. XII. 1941“. Seine Erschießung zu diesem Zeitpunkt, d. h. am Tag des Abgangs des Zuges, könnte noch in Stuttgart erfolgt sein. Möglicherweise war er aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht in der Lage, Anweisungen der SS schnell Folge zu leisten, woraufhin er ermordet worden sein könnte. Beispiele zu Schicksalen dieser Art gibt es leider aus vielen Augenzeu- genberichten. In einem Brief von Lina Wertheimer aus dem jüdischen Altersheim in Laupheim an Emma und Margaret Gideon in Winterthur vom 15. Juli 1942 heißt es: Karl (Guggenheimer d.V.) ist seit November meilenweit weg und wir hörten nichts von ihm, auch von unserer ehemaligen Schulfreundin Selma E. (Einstein, geborene Laupheimer, am 24. April 1942 ins Generalgouvernement nach Izbica bei Lublin deportiert d.V.) nichts.“

 

Guggenheimer in Laupheim

Im Gegensatz zu der Mehrheit der jüdischen Familien zählte die Guggenheimer- Familie nicht zu den seit Generationen in Laupheim beheimateten Familien. Sie stammte aus Altenstadt bei Illertissen/Bayern. Lina, geb. Guggenheimer, und Josef Guggenheimer waren beide dort gebürtig und heirateten am 8. August 1881 in Ulm. Ihre acht Kinder, Karl (1882), Leopold (1883), Julius (1884), Bertha (1886), Hermann (1887), Max (1889), Heinrich (1893) und Jette (1897), wurden alle in Laupheim geboren, was auf eine Ansiedlung Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts schließen lässt. 1888 wurden sämtliche Familienmitglieder offiziell in die württembergische Staatsbürgerschaft aufgenommen. Auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim sind zwei Generationen der Familie begraben. Neben Josef und Lina Guggenheimer sind der Vater des Mannes, Jakob Guggenheimer, und dessen zweite Ehefrau Babette, geb. Schlesinger, auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim begraben. Es ist möglich, dass die ältere Generation in diesem Falle der jüngeren gefolgt ist. Der Zuzug ist nicht dokumentiert.

Insgesamt brachten die Recherchen interessante Fundstücke zu einzelnen Familienmitgliedern zu Tage, ohne jedoch ein vollständiges Bild ergeben zu können. Lina und Josef Guggenheimer bekamen acht Kinder, wobei das jüngste, Jette, nach nur wenigen Monaten starb. Welchem Beruf oder Gewerbe Josef Guggenheimer nachgegangen ist, war nicht zu ermitteln. Die Familie lebte in der Radstraße 23. Ein einziges Mal taucht Lina Guggenheimer in einer Pressemitteilung im Laupheimer Verkündiger“ einer Maiausgabe 1930 unter der Rubrik Laupheim, Heimatmuseum, auf. Darin wird sie neben sieben anderen Spendern als Stifterin eines Satzes Gewichte aus der Zeit des Biedermeier für das Museum benannt. In den Jahrgängen der Zeitung wurden immer wieder Spenden christlicher und jüdischer Laupheimer für das Museum, aber auch für andere karikative Zwecke genannt, was letztlich das Verantwortungsgefühl aller Bürger für ihre Gemeinde und das Gemeinwohl widerspiegelte. Wenige Jahre später, 1936, hatten sich die Umstände unter den Nationalsozialisten verkehrt und Lina Guggenheimer war selbst in Not und bat die Jüdische Winterhilfe in Württemberg um die Zuteilung von einem Paar warmen Hausschuhen in der Größe 39.

Die sieben Kinder der Familie Guggenheimer wuchsen in Laupheim auf und besuchten die jüdische Volksschule, zwei von ihnen konnten auf alten Schulfotos gefunden werden. So die Tochter Bertha Guggenheimer, die auf dem Schulfoto aus dem Jahr 1895 abgebildet ist. Später, 1912, heiratete sie in Laupheim Heinrich Löwenstein aus Rexingen und verließ Laupheim. Sie zogen nach Konstanz und wanderten schließlich am 10. März 1940 mit dem Schiff "Neptunia" nach Buenos Aires / Argentinien aus.

  
Berta Löwenstein geb. Guggenheimer 1938
Archiv: Liliana Löwenstein
Berta und Heinrich Löwenstein in Konstanz 1938
Archiv: Liliana Löwenstein

Heinrich, Berta, und Kurt LÖWENSTEIN (v.l.n.r.)
1950 in Buenos AIres / Argentinien

Archiv: Liliana Löwenstein

 

Der jüngste Sohn Heinrich Guggenheimer war auf dem Schulfoto aus dem 1904 zu finden. Weiteres über sein Leben ist nicht bekannt, was letztlich auf seinen sechs Jahre älteren Bruder Max Guggenheimer zutrifft, zu dem keinerlei Informationen aufzuspüren waren.

 


Jüdische Volksschule 1895.
Oben: Obernauer, Dudle, Blumenthal;
Mitte: Bertha Guggenheimer;
unten: Wassermann, Hugo Hofstetter

Jüdische Volksschule 1904/05:Max Einstein,

Heinrich Guggenheimer, Julius Weil.

 

 

 

 

 

Als einziger der sechs Söhne der Familie Guggenheimer hatte sich nur Julius in dem von Jonas Weil angelegten Verzeichnis von Kriegsteilnehmern der israelitischen Gemeinde Laupheim eingetragen. Er war am 5. November 1914 in das Landwehr- Infanterieregiment 123 Ravensburg eingerückt und hatte nach eigenen Aussagen die Stellungskämpfe im Oberelsaß mitgemacht und wurde nach Beendigung des Krieges am 24. Dezember 1918 entlassen.

Fast ein Jahrzehnt später gab er in einem Inserat vom 20. Dezember 1927 im „Laupheimer Verkündiger“ seine Heirat mit Grete Levy bekannt. Die Ortsangaben in der Anzeige verweisen zum einen auf die Herkunftsorte des Brautpaares, nämlich Laupheim und Hohenlimburg in Westfalen sowie zum anderen auf den vermutlichen Lebensmittelpunkt von Julius Guggenheimer, nämlich die Stadt Stuttgart, was als letztes Lebenszeichen von ihm zu finden war.

Wesentlich weiter reichen da die Ergebnisse der Recherchen zu Leopold Guggenheimer. Er hatte von allen anderen Geschwistern am längsten in Laupheim gewohnt. Erst im Jahre 1930 verließ er sein Elternhaus in der Radstraße 23 in Laupheim. Kopien der Steuerakten von den im Regierungsbezirk Oberbayern liegenden Finanzämtern wiesen auf seinen Umzug nach München hin. Eine Bestätigung dafür fand sich im „Biographischen Gedenkbuch der Münchner Juden 1933–1945“, in dem er namentlich aufgeführt wird. Sein Zuzug in die Stadt München erfolgte demnach am 18. April des Jahres 1932. Sein hier abgebildetes Foto stammt aus der Kennkarte zu seiner Person.

Leopold Guggenheimer war Hausierhändler, mit Hanna, geb. Ansbacher, verheiratet und hatte drei Kinder: Salomon, Simon und Joseph. Eigentümlicherweise tauchen sie weder in Standesamtsunterlagen noch in dem genannten Gedenkbuch auf, so dass keine weiteren Aussagen über ihren Lebensweg getroffen werden können. Aus der Hand von Leopold Guggenheimer ist eine Erklärung gegenüber den Finanzbehörden überliefert, die unmissverständlich zum Ausdruck bringt, wie enorm die Repressalien den jüdischen Hausierern gegenüber in der Zeit nach 1933 von den Nationalsozialisten waren: Passfoto von Leopold Guggenheimer rechts.

 

„München, den 15. 10. 37
Ich teile mit, dass ich vom August 1935 – 13. Februar 37 in Rebdorf im Arbeitshaus war u. konnte anno 1936 keine Erklärung ablegen. Im April habe ich um einen Hausierschein eingereicht u. habe keinen bekommen. Daher habe ich keinen Verdienst u. kann keine Steuer bezahlen.
Hochachtungsvoll
Leopold Guggenheimer

 

Das folgende Schriftstück dokumentiert, wovon er letztlich seinen Lebensunterhalt bestritt:

Leider schließt sich mit dem Schicksal von Leopold Guggenheimer der Kreis, der mit seinem älteren Bruder am Anfang gezeichnet wurde. Auch er wurde deportiert. Das Ziel seiner Deportation war Kaunas, wo er am 25. November 1941 ermordet wurde.

Nachtrag:

Lina Guggenheimer, vor dem Haus in der Radstraße 23

 

Quellen-, Literatur- und Bildverzeichnis:

John-Bergmann-Nachlass.

Archiv des Museums zur Geschichte von Christen und Juden im Schloss Großlaupheim.

Biographischen Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-45. Stadtarchiv München (Hrsg.) München 2007, Band 1.

Hecht, Cornelia/Köhlerschmidt, Antje: Die Deportationen der Juden aus Laupheim. Laupheim 2004. Hüttenmeister, Nathanja: Der Jüdische Friedhof Laupheim. Laupheim 1998.

Naeve, Detlev: Geschichte der Pflegeanstalt Heggbach und des Kinderasyls Ingerkingen im Nationalsozialismus 1933–1945. Eitorf 2000.

Stadtarchiv Laupheim Fl 9811–9899 Ia.

 

Nachtrag:

 

Sehr geehrte Frau Dr. Köhlerschmidt und Herr Neidlinger, Ko-Autoren des Gedenkbuches „Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung“,
sehr geehrte Studierende der Übersetzer-Studiengänge sowie Lektoren der Universitäten München und Heidelberg,
sehr geehrte Frau Lincke,
lieber Herr Schick und Mitglieder der Gesellschaft für Geschichte und Gedenken,
 
mit großer Ehre und Freude komme ich dem Wunsch von Herrn Schick nach, ein Grußwort an Sie zu richten.
Zum ersten Mal in meinen 54 Jahen nahm ich vor einem Monat mit der Stadt Laupheim, d. h. mit der Gesellschaft für Geschichte und Gedenken, Kontakt auf.
Meine Großmutter väterlicherseits, Berta Guggenheimer, wurde am 28.04.1886 in Laupheim geboren. 1912 heiratete sie meinen Großvater, Heinrich Löwenstein (aus Rexingen), und zog mit ihm nach Konstanz. Am Bodensee kamen 1914 und 1916 zwei Söhne zur Welt, die sie 1936 für ein freies Leben und eine bessere Zukunkft nach Argentinien schickten. Erst 1940 konnten meine Großeltern mit großen Bemühungen ihres Sohnes Kurt in Argentinien den letzten Wohnsitz in Konstanz - ein sogenanntes Judenhaus - verlassen und somit der Deportation und Vernichtung entkommen und ihr Leben retten.
Die im kommenden Juli in Konstanz beginnende Ausstellung „Das jüdische Konstanz – Blütezeit und Vernichtung“ war für mich ein Auslöser. Im Oktober letzten Jahres erhielt ich einen Brief des Direktors der Städtischen Museen in Konstanz mit der Bitte, Fotos, Dokumente, Erinnerungsstücke, Bücher usw., die von den Vorfahren aus Konstanz in die neue Heimat mitgebracht wurden, leihweise zur Verfügung zu stellen. Mit Freude, trotz der damaligen traurigen Umstände, konnte ich Einiges für die Verwendung als Exponate für die Ausstellung nach Konstanz schicken. Die Vorbereitung zahlreicher Dokumente und Bilder sowie Gegenstände wurde zu einer Gelegenheit, nach meinen Laupheimer Wurzeln zu suchen.
Als meine Großmutter Berta verstarb, war ich 4 Jahre alt und 8 als mein Vater starb. Mein Großvater verstarb schon vor meiner Geburt. Der Bruder meines Vaters starb im Alter von 22 Jahren kurz nach seiner Ankunft in Argentinien. Ich wußte eigentlich nur, was mir meine Mutter von der Familie meines Vaters hat erzählen können.
Ich muss gestehen, dass ich als Jugendliche sowie später als Erwachsene öfters diese aufbewahrten Dokumente und Gegenstände in meinen Händen hatte; zwar habe ich sie angeguckt, aber eigentlich habe ich nicht wirklich gesehen, worüber sie berichteten.
Die Vorbereitung meines Beitrages für die Ausstellung in Konstanz wurde zum Anlass, mich diesmal viel tiefgreifender mit der Geschichte meiner Familie väterlicherseits auseinanderzusetzen und bin dank dem Internet und des Buches von Frau Dr. Köhlerschmidt und Herrn Neidlinger sowie der Webseite der Gesellschaft für Geschichte und Gedenken in Laupheim in der Kenntnis über meine Laupheimer Wurzeln um Einiges reicher geworden.
So bekamen für mich Namen zum ersten Mal Gesichter. In einem aus Deutschland von meiner Großmutter mitgebrachten Gebetbuch von ca. 1853, trug sie die Namen ihrer Eltern und Geschwistern mit dem jeweiligen Sterbedatum und Ort ein. Nun weiß ich, wie die umgebrachten Brüder Karl und Leopold aussahen. Nun weiß ich, wie meine Oma im Schulalter aussah, ebenso ihr Bruder Heinrich. Nun weiß ich, dass sie und alle ihre Geschwister in Laupheim die Jüdische Volksschule besuchten. Nun weiß ich, dass meine Großmutter im März 1940 wissend, dass sie ihre Mutter niemehr sehen würde, sie in Deutschland zurück gelassen hat. Nun weiß ich, dass meine Uroma die letzten 16 Monate ihres Lebens zusammen mit ihrem geistig behinderten Sohn Karl im jüdischen Altersheim als Zwangswohnsitz und Vorstufe der Deportation für Karl verbracht hat. Nun weiß ich, dass mein Großonkel Karl als jüdischer Pflegling der Pflegeanstalt Heggbach bis zu seiner Deportation nach Riga und Hinrichtung zugewiesen war. Nun weiß ich, dass auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim nicht nur meine Urgroßeltern begraben sind, sondern auch der Vater meines Urgroßvaters und seine zweite Ehefrau.
Am 29.04.2015 startete ich meinen ersten Versuch, mit Frau Dr. Köhlerschmidt über die Schule, an der sie in München tätig ist, Kontakt aufzunehmen. Ebenso am 3.05.2015 schrieb ich meine erste Nachricht an die Gesellschaft für Geschichte und Gedenken in Laupheim und erhielt sofort Antwort von Herrn Schick. Dank ihm erreichte meine Nachricht auch Frau Dr. Köhlerschmidt. Und am 4.05.2015 erreichte mich mit großer Freude eine Antwort von Frau Dr. Köhlerschmidt.
Im Oktober d.J. werde ich zum ersten Mal in Laupheim sein, auf dem jüdischen Friedhof das Grab meiner Urgroßeltern und meines Ururgroßvaters sowie das Haus in der Radstraße 23, in dem meine Großmutter, ihre Geschwister und Eltern gewohnt haben, besuchen. Das hätte ich mir nie träumen lassen und bin sehr glücklich, dank Ihrer werten Arbeit und Hilfe diesen Weg zurück zu meinen Vorfahren gefunden zu haben! Auch möchte ich meinen herzlichsten Dank den Laupheimer Schülern aussprechen, die freiwillig den Friedhof pflegen, sowie der Gesellschaft für Geschichte und Gedenken für den Erhalt der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Laupheim.
Noch ein abschließendes Wort an die Übersetzer: die deutsche Sprache wurde in meinem Elternhaus beibehalten. Auch dank dem Besuch einer deutschen Schule in Buenos Aires konnte ich schließlich den Übersetzerberuf ergreifen. Ich bin Diplom-Übersetzerin in deutscher und spanischer Sprache geworden. Doch in vielen Familien in der Diaspora ist die deutsche Sprache nicht erhalten geblieben, und somit wird mit Ihrer wertvollen Leistung, das Gedenkbuch in die englische Sprache zu übersetzen, bestimmt vielen Nachkommen der Weg zu ihren Wurzeln zugänglich gemacht werden.
 
Liliana Löwenstein
Buenos Aires/Argentinien, 6. Juni 2015
Bilder vom Besuch am 06.10.2015 (Michael Schick, Liliana Löwenstein, Fernando Silbermann)
  
Wie es der Zufall wollte, war gerade eine Schülergruppe aus Friedrichshafen zu Besuch im jüdischen Friedhof. Die Schüler erlebten nun wie lebendig ein Friedhof sein kann.







Rede von Liliana Löwenstein am, 05. Oktober 2015 anlässlich der Stolperstein Verlegung in Konstanz

http://stolpersteine-konstanz.de/index.html?lwenstein_verlegungsrede.htm
Sehr geehrte Vertreter der Initiative
„Stolpersteine für Konstanz –  Gegen Vergessen und Intoleranz“,

liebe Frau Brügemann,
lieber Herr Seiffert,

sehr geehrter Herr Venedey,
lieber Herr Dr. Engelsing,
liebe Frau Dr. Foege,

liebe Claudia,
lieber Gerd,

mein lieber Fernando,
liebe Anwesenden, 

„Wisse, woher du kommst und wohin du gehst“ – lehrt uns der Talmud.

Welche Illusionen und Erwartungen führten Heinrich und Berta von Rexingen und Laupheim nach Konstanz? Sicherlich die Gründung einer Existenz und einer Familie in einer größeren Stadt in einer malerischen Umgebung, in der ihre Kinder friedlich und sorglos aufwachsen sollten.

Kurz nach ihrer Hochzeit in Laupheim und Umzug nach Konstanz und trotz des Schreckens sowie der Ängste des Ersten Weltkrieges schenkten sie voller Zuversicht und Hoffnung auf die Zukunft ihren beiden Söhnen das Leben. Die Jungen wuchsen in der deutschen Kultur und im festen jüdischen Glauben auf. 1927 und 1929 hatten Walter und Kurt ihre Bar Mitzva. Ihre Oma Lina schenkte jedem ihrer Enkelsöhne nun ihre eigenen jüdischen Gebetbücher, die sie für das weitere Leben begleiten sollten – und später auch nach Argentinien begleitet haben. Dem Ehepaar Heinrich und Berta waren wahrscheinlich 20 glückliche Jahre zusammen mit ihren Söhnen am Bodensee vergönnt.

Wider Erwarten kam dann das Unglück der Verfolgung über sie: Berufsverbot, damit einhergehende Verarmung, Notwendigkeit fürsorglicher Unterstützung, schließlich die Vision, ihre Söhne zu retten und ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Nach Schulabschluss und kurzer Handwerkslehre traten beide jungen Männer getrennt voneinander und ganz allein auf sich gestellt  die Reise nach Südamerika an. Später folgten in Konstanz -sowie überall in Deutschland- Reichspogromnacht, Dachau, Schutzhaft, Judenstern, Judenkennkarte, Judenhaus, Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, Kriegsausbruch, Deportationen, Vernichtung.

Wie schlimm müssen für Berta und Heinrich die Jahre ab Juli 1936 gewesen sein, als sie sich von ihren Söhnen trennten? Noch 10 Tage bevor Kurt seine Eltern verließ, überraschte sie der plötzliche Tod von Walter. In welcher Angst müssen sie gelebt haben, bis Kurt eine Genehmigung in Buenos Aires erhielt, die den Eltern die Einreise nach Argentinien und das Überleben im Exil ermöglichte? In welcher Angst und Verzweiflung muss Kurt gelebt haben, bis es ihm schließlich gelang, am 10. März 1940 seine Eltern vor dem wahrscheinlich sicheren Tod in einem Vernichtungslager zu retten?

Oma Lina blieb in Laupheim zurück. Die letzten 16 Monate ihres Lebens verbrachte sie im jüdischen Altersheim als Zwangswohnsitz, zusammen mit ihrem geistig behinderten Sohn Karl, genau dort, wo ehedem die Jüdische Volksschule, in die sie ihre Kinder geschickt hatte, untergebracht gewesen war. Ihr blieb die Deportation in ein Vernichtungslager dank ihres natürlichen Todes im Januar 1941 zwar erspart, nicht aber ihren Söhnen Karl und Leopold. Beide kamen in Konzentrationslagern gewaltsam ums Leben.

Sicherlich war es ihr starkes und überzeugtes Gottvertrauen, das ihnen die Kraft gegeben hat zu überleben. Ich selber habe mir des öfteren Gedanken gemacht, ob ich diese furchtbaren Schicksalsschläge, die ich auch aus dem Leben meiner Mutter kenne, hätte überleben können, und ich glaube, ich hätte niemals diese Kraft aufgebracht.„Wisse, woher du kommst und wohin du gehst“ - lehrt uns der Talmud.

Im Oktober 1993 stand ich schon einmal hier an dieser Stelle, auf der Suche nach meinen Wurzeln, in der Blarerstraße vor dem Haus mit der Nr. 32, fotografierte das Gebäude, und fragte mich, ob meine Großeltern, mein Vater und mein Onkel tatsächlich hier gewohnt haben, ob sie durch diese Straßen, durch das Schnetztor gegangen sind. Meinen Großvater habe ich nicht kennengelernt. Als meine Großmutter starb, war ich vier Jahre alt, als mein Vater starb, acht. Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater und seine Familie sonntags für gewöhnlich einen Spaziergang nach Kreuzlingen machten. Heute habe ich die Gewissheit, dass sie hier gewohnt haben. Wie wären ihr Leben und mein Leben gewesen, wenn sie Konstanz niemals hätten verlassen müssen?

Würde ich vielleicht heute in dieser Stadt leben, vielleicht in diesem Haus wohnen? Als ich 1993 in Konstanz das erste Mal aus dem Zug stieg, hatte ich fast instantan das Gefühl, dass ich hier leben könnte oder hier schon einmal gewesen war. Auf sonderbare Art und Weise fühlte ich mich nicht fremd. Auch wenn ich weder mit meinem Vater noch mit meinen Großeltern jemals darüber sprechen konnte, so ist Konstanz auf ganz besondere Weise tief und fest in meinem Herzen verankert!

WISSE, WOHER DU KOMMST UND WOHIN DU GEHST –

Das gilt für mich, sowie gleichermaßen für alle vertriebenen und verfolgten Familien.

Ebenso gilt es für die jungen und nachkommenden Generationen. Jüdische Deutsche gehörten auch zum deutschen Volk und haben ihre Spuren für uns Alle hinterlassen. Stolpersteine sind im 21. Jahrhundert für mich persönlich die Ermahnung für das Nicht-Vergessen und für die aktive Erinnerung.

Deshalb verlegen wir heute hier diese 4 Stolpersteine, und geben damit Heinrich, Berta, Walter und Kurt ihre Identität in dieser Stadt zurück, in der sie von ihrer Staatsangehörigkeit beraubt wurden, aber in der neuen Heimat auch weiterhin Deutsche blieben und darauf verzichteten, eine neue Staatsangehörigkeit, die argentinische, anzunehmen. Der damalige deutsche Gesetzgeber beschloss, dass jüdische Deutsche beziehungsweise deutsche Juden ihre Staatsangehörigkeit als Deutsche nur durch Antrag auf Wiedereinbürgerung wieder erwerben könnten. Am 26. November 1953 erteilte schließlich das Landratsamt Konstanz Heinrich und Berta sowie Kurt ihre deutsche Staatsangehörigkeit zurück. 

Diesen Moment heute hier hatte ich mir nie zuvor in meinem Leben ausgemalt, und ich bin sehr glücklich, diesen Weg zurück zu meinen Vorfahren in Konstanz und Laupheim gefunden zu haben. Ich möchte mich ganz besonders bei Herrn Günter Demnig sowie bei den Vertretern der Stolpersteininitiative Konstanz für diesen zusätzlichen Verlegetermin in diesem Jahr bedanken, ebenso wie bei Herrn Dr. Engelsing und Frau Dr. Foege dafür, dass Sie mich mit Ihrem Ausstellungsprojekt „Das jüdische Konstanz- Blütezeit und Vernichtung“ erneut dazu bewegt haben, mich mit meiner Herkunft, der Geschichte meiner Familie und dem Schicksal meiner Großeltern, Eltern und Verwandten, tiefer auseinanderzusetzen. In meiner eigenen Geschichte bin ich hierdurch um Einiges reicher geworden.


Liebe Claudia, lieber Gerd, an Euch ein ganz besonderes und herzliches Dankeschön für Eure Begleitung auf diesem Weg meines Lebens!

Vielen herzlichen Dank an Alle heute hier Anwesenden für Ihre und Eure Anteilnahme!

Liliana Löwenstein

 

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